2. Weder voran noch hinterher

    Zu Beginn der Moderne stand die große Revolution – auch in der Bildenden Kunst. Die Grenzen einer akademisch und historistisch gewordenen Kunst sprengten Künstler, die den Mut fanden, diese allzu engen Grenzen zu überschreiten. Sie verließen die ausgetretenen Pfade und suchten eigene Wege.
Das kunstinteressierte Publikum verspottete damals diese Künstler und ihre Werke. Niemand wollte in ihre Kunst Geld investieren. Doch die Entwicklung der Kunst und ihre Darstellung in der Kunstgeschichte  machte im 20. Jahrhundert aus der Avantgarde von gestern die Klassiker der Moderne und die Spötter und Verächter von einst galten nun als Banausen, deren Kriterien der Bewertung sich als lächerlich und unbrauchbar erwiesen. Als dann aus den einst verachteten Werken heiß umkämpfte Exponate wurden,  bewirkte dies, dass man von nun an rechtzeitig in die zukünftigen Klassiker investieren will. Niemand möchte gern irgendwann als Banause dastehen und so wagt keiner mehr, seine Zweifel am Wert der Werke zu äußern.

Bild: "Bei mir selbst" (Radierung-Vernis mous)

   So hat die Kunst eine Entwicklung genommen, in der Avantgarde nicht mehr möglich ist. Wie soll es heute noch möglich sein, der Kunst durch Grenzüberschreitungen neue Räume zu eröffnen? In einem grenzenlosen Raum lassen sich keine Grenzen überschreiten. Wie könnte ein Künstler heute noch Vorhut sein, wenn ihm bereits der Tross im Nacken sitzt? In diesen Zeiten kann ein Künstler nicht mehr voran schreiten, sondern nur noch die Flucht ergreifen – heraus aus dieser Kunstmaschinerie ins Niemandsland und sich dort mühsam verbergen vor dem, was ihn von hinten zu überrollen droht. Denn dort, wo niemand mehr Feind sein will, werden die Freunde zur Gefahr.

   Wer sich heute in der Kunst als avantgardistisch versteht und inszeniert, sucht bestenfalls nach Möglichkeiten anders zu sein, etwas ‚Bisher-nicht-dagewesenes‘ zu machen und dieses als Markenzeichen zu stilisieren. Denn um in dem überreizten und gelangweilten System Kunst noch Aufmerksamkeit zu erregen, bedarf es heute größter Anstrengungen. Zu schnell wendet sich das erlauchte Publikum neuen Reizen, neuen Produkten und Moden zu. Es geht schon lange nicht mehr darum Grenzen zu überschreiten und die Kunst von allzu engen  Fesseln zu befreien. Schon heute auf der Welle zukünftiger Trends zu schwimmen, lautet das Erfolgsrezept.

   Dem Fortschrittsglauben der Moderne folgte so die postmoderne Beliebigkeit. Feyerabend‘s „anything goes“ gilt schon viel zu lange in der Kunst. In den Zeiten der Beliebigkeit sind die alten Orientierungen unbrauchbar, scheint jedwede Ordnung obsolet. Wo alles möglich ist, verliert alles seinen Sinn, wo alles möglich ist, ist nichts mehr wichtig – es sei denn, der Einzelne erkennt und bestimmt es für sich. In solchen Zeiten bleibt dem Kunst-machenden nur der Rückzug auf sich selbst, bleibt ihm nur die künstlerische Selbstbesinnung.
Jeder Querfeldein-Wanderer weiß, dass man in einem unwegsamen Gelände oft nur weiter kommt, wenn man auch mal bereit ist, den Weg ein Stück weit zurück zu gehen und sich neu zu orientieren.

   Wenn die fortschreitenden Grenzüberschreitungen der Moderne lediglich die Möglichkeiten der Kunst erweitert, das Repertoire der Aussagemöglichkeiten erweitert hätten, wäre der Freiraum der Kunst nur gewachsen – und die Revolution der Moderne bewirkte sicherlich auch dies: Eine größere Freiheit, die in der Vielfalt der Möglichkeiten liegt. Doch die Revolutionäre übersahen, was im ‚Ancien Régime‘ der Kunst die Künstler wollten, konnten und durften. Die Freiheiten, die in deren Möglichkeiten lagen, wurden mit über Bord geworfen – und dies bedeutet, sich selbst zu beschränken, sich dieser Möglichkeiten zu berauben und sich neuen Zwängen zu unterwerfen.
Im Überschwang der Revolution können und wollen Revolutionäre nicht wahrhaben, dass sie sich im Akt der Befreiung auch so mancher Freiheiten berauben.

Die Kunst wird nur frei sein, wenn sie frei für all ihre Möglichkeiten ist. Es ist die Freiheit der bildnerischen Möglichkeiten, doch diese bedeutet noch lange nicht Beliebigkeit im Reich der Kunst.

Zitat: Conrad Fiedler über die Künstler der Avantgarde.

   Die Künstler der Moderne müssen sich seitdem als ‚noch-verkannte-Genies‘  inszenieren und mit dem Anspruch auftreten, dass ihrer Kunst die Zukunft gehöre. Dazu gilt es immer wieder neue Grenzen zu entdecken und zu überschreiten. Es gilt, am Anfang einer zukünftigen Entwicklung zu stehen mit dem Angebot: ‚Wer heute in meine Kunst investiert, hat heute schon den Klassiker von morgen‘.

   Kunst ist heute mehr als je zuvor Ereignis, Erlebnis und Inszenierung. Doch oft  inszeniert sich das Publikum selbst, die Arbeiten der Künstler sind nur noch stilvolles Ambiente, in der das Publikum sich selbst feiert und aufwertet. Und wenn erst das ‚Enfant terrible‘ zum gefeierten Publikumsliebling avanciert, verkommt jedwede Provokation zum lustigen Geck und das Werk endet „très chic“ als dekorativer Wandschmuck. In einer Welt, in der dem Künstler alles möglich und erlaubt ist, entscheiden schließlich allein das Marktgeschehen und die dort erzielten Preise über den ‚Wert‘ und die ‚Bedeutsamkeit‘ der Werke.

Zitat: Albert Camus über die Hybris der zeitgenössischen Künstler
Zitat: Werner Hofmann sagt, es sei nostalgisch das Kunstgeschehen fortwährend avantgardistisch programmieren zu wollen
Zitat: Hannes Böhringer über die Mechanismen des gegenwärtigen Kunstbetriebs.