6. Grenzgedanken

Wir erfahren Raum durch Bewegung, durch die Veränderung unserer Position im Raum. Dabei ist es für meine Überlegungen zunächst unerheblich, ob es sich um einen dreidimensionalen Raum oder nur um eine Fläche handelt. Ein Raum ist für uns bestimmt durch seine Begrenzung. Erst die sinnliche Erfahrung seiner Grenzen macht ihn für uns als Raum erfahrbar. So sind auch unsere Bewegungen und unsere Positionen im Raum immer durch seine Begrenzung bestimmt und darauf bezogen. Und welche Bedeutung dieser Raum für uns (als Inhalt) hat, wird bestimmt durch unsere Beziehung zu seiner Grenze – so kann er uns Heim oder Gefängnis sein.

Auch ein Bildraum – und was wir in ihm finden – erschließt sich uns durch Bewegung (Bewegung unserer Augen, das Wandern unseres Blicks über die Bildfläche) und durch Wahrnehmung seiner Begrenzung. Der Bildgrund ist stets  begrenzt, wie groß er auch immer sein mag. Eine unbegrenzte Bildfläche ist undenkbar, kann niemals Bild sein.

Ein Bildraum ist weit mehr und etwas anderes als die Illusion eines dreidimensionalen Raumes. Mit Bildraum meine ich hier also nicht (allein) den Eindruck einer Tiefe, die ein Maler mit bildnerischen Mitteln im Bild erzeugen kann. Die Erzeugung einer Tiefe auf diesem begrenzten Feld des Bildgrundes ist eine Art Flucht ins Bild aus dem Bildgrund heraus.

Was wir in diesem Bildraum wahrnehmen – also das Bild, erschließt sich uns durch Bewegung und Begrenzung. Das Bild findet durch seine Grenze Halt, Ordnung und Bedeutung. Denn was innerhalb seiner Grenze zu finden ist, ist immer auch auf diese Grenze bezogen. So kann es innerhalb dieser Grenze (in sich) ruhen, es kann sich an ihr stoßen oder es kann über sie hinausweisen. Die Grenze ordnet den Inhalt. Wie schwer ein Bildelement wiegt, entscheidet sich von hier.

Diese Beziehung nennt man meist Komposition, nur wird oft vergessen oder zu wenig beachtet, welche Bedeutung diese Beziehung für die Aussage des Bildes hat. Die Grenze des Bildgrundes ist Gesetz. Es ist für den Gestaltenden unmöglich, diese Grenze zu negieren. Selbst Kompositionen, die über den Bildgrund hinausweisen, benötigen sie noch als die zu überschreitende Grenze.

Nun schauen wir auf uns und fragen: Wie könnten wir einem unbegrenzten Leben Sinn geben?
Ist es nicht unser Tod (als unüberschreitbare Grenze unseres Daseins), der uns das Leben davor als zwar endlichen aber gestaltbaren Raum er-greifen lässt, als einen Raum voller Gelegenheiten und Möglichkeiten uns zu leben? Wie sollten wir auch einen unendlichen Raum füllen können?

Diese Begrenztheit lässt uns nach dem Sinn unseres Lebens suchen, doch wir finden den Sinn im Leben über eine andere Grenzerfahrung.

Sinn ist immer auch an unsere Sinne geknüpft.
Unsere Sinne sind unsere Grenzübergänge, über sie sind wir mit der Welt verbunden. Sinnliche Erfahrungen sind somit notwendig Grenzerfahrungen.
Unsere Sinne lassen uns erfahren, wo das Ich aufhört und wo der Andere und das Andere beginnt. 
Unsere Sinne lassen uns so aber auch erkennen, dass wir Teil dieser Welt sind.

Unsere Sinne sind nicht nur dort, wo wir aufhören und die Welt beginnt – sie sind dort, wo wir unser Verbunden-sein mit dieser Welt wahrnehmen. Weil wir unsere Grenzen sinnlich wahr-nehmen, ist Sinn immer auch eine Grenzerfahrung.

Unsere Sinne sind dort, wo unser Leben Sinn macht,
dort wo unser In-der-Welt-sein beginnt.

Bild: "BrunoR im Trockendock" (Ölgemälde, 1998)
Zitat: Rudolf Arnheim über die Notwendigkeit von Begrenzung für das Verstehen eines Bildes.
Zitat: Georg Simmel sieht die Welt als ganze, die Seele und das Kunstwerke als abgeschlossene Einheiten.