7. Zufälliges Leben

Im Alltag nennt man oft Menschen, die alles auf die leichte Schulter nehmen und ihr Leben in vollen Zügen genießen: „Lebenskünstler“ – doch von dieser Art „Kunst“ will ich hier nicht sprechen. Lebenskunst, wie ich sie verstehe, ist wie das Kunst-machen ein offener Prozess, in dem in einem bestimmten Moment Form entsteht. Und es sind zufällige Ereignisse, die beide Prozesse auslösen, vorantreiben oder verändern.

Wie wir mit den Zufällen unseres Daseins umgehen, charakterisiert unseren Weg durch dieses Leben. Erst diese unberechenbaren, unvorherseh-baren Ereignisse machen aus diesem Leben unser eigenes, lassen uns werden, die wir sind.

Wie oft geschah schon etwas in unserem Leben, dass wir weder erwartet, noch erhofft hatten?

Bild: textiles Markttheater (Fotografie, 1999)
Bild: textiles Markttheater (Fotografie, 1999)

Und doch bestimmten diese überraschenden Zufälle unser weiteres Leben in einem Ausmaß, wie wir es vorher niemals erahnen oder planen konnten. Es müssen dies nicht immer die tragischen Momente oder Ereignisse sein (die uns allzu leicht aus der Bahn werfen), auch scheinbar unbedeutende Momente können große Wirkung haben. Wir begegnen zufällig einem Menschen und die Gespräche mit ihm lassen uns nicht mehr los oder wir greifen wahllos ein Buch heraus und beginnen zu lesen – und unser Leben ist nicht mehr, wie es vorher war. Unsere Wahl war es nicht, doch nun müssen wir wählen: nehmen wir es an oder kämpfen wir dagegen an. Selbst wenn wir beschließen es zu ignorieren und so tun, als sei nichts gewesen – was da geschah, hat unser Leben verändert.

Was da so zufällig in unser Leben trat, mag selbst kausal bedingt sein – wie auch wir nicht ohne Grund und Ziel durch unser Leben zogen – doch das Zusammen-treffen dieser Kausalitätsketten war nicht vorherzusehen.
Selbstverständlich ist es nicht auffallend zufällig, wenn ein Bücherfreund zu einem Buch greift und ziellos darin zu lesen beginnt. Doch wie oft geschah dies schon und blieb folgenlos. Doch dieses eine Mal sprach das Buch ihn an, berührte ihn und veränderte seine Weise durchs Leben zu gehen.

Solch zufällige Begegnungen greifen auf eine Weise in unser Leben ein, dass wir geneigt sind, von Schicksal zu sprechen.

Wäre unser Leben allein das Ergebnis unserer Entscheidungen, es wäre vermurkst und verkorkst. Wer ist schon so frei, allein zu wollen und anzustreben, was die Vernunft als richtig und wichtig für das eigene Leben erkannt hat? Wer von uns hat schon so viel Weisheit und Einsicht in die Gesetze des Lebens? Also halten wir uns an das, was bereits vor uns gelebt wurde oder was uns derzeit vorgelebt wird. Wir tun und wollen, was ‚normal‘ ist oder ‚modern‘ oder ‚cool‘ oder ‚in‘ – halt das, was das ‚man‘ so will. Wir wollen ‚sein wie …‘ und werden niemals selbst.
Zu uns selbst finden wir nur über die unberechenbaren Schläge und Winke des Schicksals (= des Zufalls), sie erst werfen uns auf uns selbst zurück.

Zitat: Euripides sieht das Leben als Götter-Spiel von unberechenbaren Zufällen.
Zitat: Klaus Möller sieht den Zufall als Bedingung unserer Freiheit
Zitat: Odo Marquard sagt, dass nicht unsere Pläne sondern Zufälle uns durchs Leben führen.
Zitat: Maurice Merleau-Ponty über das menschliche Moment par exellence.
Zitat: Wolfgang Welsch stellt fest, dass wir ein Zufallsprodukt der kosmischen und irdischen Evolution sind.