5. Zufällige Kunst oder künstlicher Zufall

Aber nicht alles Zufällige geschieht in der Kunst unabsichtlich. Besonders in der modernen Kunst ist das Zufällige oft gewollt. Mit Zufallsbildern aus Tintenklecksen experimentierte bereits Martin Luther, als er sein Tintenfass nahm und gegen die Wand warf, um den Teufel zu vertreiben. Doch die Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts zeigt:
Der Teufel ist nicht der Verursacher aller Zufälle.
Mit sogenannten ‚befreienden Verfahren‘ (Max Ernst) versuchten viele Künstler sich aus dem Dilemma der Bildwerdung zu befreien. Aus dem Dilemma, dass wir zunächst Gewalt ausüben müssen, um in den Prozess des Gestaltens zu kommen, uns dann dem Prozess überlassen müssen und schließlich auch noch für das Ergebnis gerade stehen sollen.
Oder war und ist es ihre Angst vor der weißen Leinwand  - dem noch Unbestimmten, dem Nichtssagenden? Möglicherweise wissen sie nicht, was sie in das große weiße Schweigen sagen sollen. Denn die Angst vor dem weißen Blatt kennen nicht nur die Jünger des geschriebenen Wortes, seit den Malern industriell gefertigte weiße Malgründe zur Verfügung stehen, leiden viele von ihnen unter dem „Jungfräulichkeitskomplex“ - wie Max Ernst es nannte. Was lag da näher, als dem verantwortungslosen Zufall die erste „Befleckung“ der jungfräulichen Weiße zu überlassen?
Den Wunsch nach Unbelangbarkeit vermute ich dagegen bei jenen Künstlern, die ihr Schaffen dem Zufall und einer inhaltsleeren Ästhetik überlassen. Die Illusion, der sie sich hingeben und die sie erzeugen, ist größer als jene, die ein ‚Trompe d’oel‘ jemals bewirken könnte.
Bild: Meine Palette nach getaner Arbeit
Bild: Nouvelle - Ausschnitt (Acryl auf Leinwand, 2017)

Zufall oder Absicht?

Links ist meine Palette nach getaner Arbeit zu sehen und rechts was daraus geworden ist. Vordergründig betrachtet sehen wir auf der einen Seite ein „Werk“ des Zufalls und auf der anderen das Werk menschlichen Willens, jedoch sind beide das Ergebnis eines Zusammenspiels von Intention und Zufall.

Auf der Palette bestimmte ein gezieltes Suchen nach bestimmten Farbtönen die Aus-wahl der Farben und wie sie zueinanderfinden. Meine Handlungen erfolgten hier also bewusst und sehr gezielt.
Welche Formen und Farbklänge sich jedoch beim Mischen auf der Palette ergaben, hatte ich nicht bewusst beachtet – also ganz dem Zufall überlassen. Das Farben-spiel auf der Palette ist sicherlich reizvoll und solch ein Ergebnis mag einigen Malern bereits als „Bild“ genügen, ich habe jedoch Schwierigkeiten in solchen Gebilden ein Bild zu erkennen.
Das Übertragen der Farben auf die Leinwand – also das eigentliche Malen – war keineswegs ein rein zielgerichtetes, wohl überlegtes Handeln, sondern erfolgte oft sehr spontan und impulsiv. So ist es nicht verwunderlich, dass auch dieser Vorgang nicht frei von Zufällen war.

Besonders bei der hier gewählten Malweise lässt es sich kaum vermeiden, dass der Pinsel manchmal zu viel Farbe abgibt oder – wenn ich den Pinsel fahrlässig führe – dass sich Strukturen bilden, die ich so nicht gewollt habe. Manchmal werde ich auch überrascht von einem nicht erwarteten Zusammenspiel der Farben oder der Ton einer gemischten Farbe hat im Bildzusammenhang nicht die gewünschte Wirkung. Besonders verheerend aber ist es, wenn ich unkonzentriert oder unter Zeitdruck arbeite, weil das Malen dann schnell mechanisch erfolgt und der Vorgang stärker von meinem Willen als vom Geschehen auf der Leinwand gesteuert wird.
Zitat: Novalis: „Spielen ist experimentieren mit dem Zufall“
Zitat: Wolfgang Welsch: „Nicht der Zufall, sondern der Künstler macht das Kunstwerk – zu dem der Zufall beiträgt.“
Zitat: Friedrich Schiller bezeichnet den Zufall als rohen Stein, den der Künstler erst bearbeiten muss.
Für das Zufällige offen sein, ist etwas anderes als „Seiner Majestät dem Zufall“ den Gestaltungsprozess zu überlassen. Wenn ein Künstler den Gestaltungsprozess allein dem Zufall überlässt, verweigert er sich dem Dialog, er entzieht sich dem Bild. Wenn er niemals bewusst und gewollt in den Prozess der Bildwerdung eingreift, ist es, als würde er sich der Stimme enthalten. Er schweigt – wohl weil er nichts zu sagen hat oder sich nicht traut. Er stellt seine Fragen nur dem Zufall („was sagst du jetzt?“) und enthält sich einer Antwort („nun sieh du mal zu, was das werden soll“)